Schnitt und Schuss: Gemälde «Tanz im Varieté» hat viel durchgemacht
Basel 05.01.2025 - 10:04
Restauratorinnen am Kunstmuseum Basel bereiten das knapp sieben Millionen Euro teure Werk des deutschen Malers Ernst Ludwig Kirchner auf.
Das Wichtigste in Kürze
- Im Juni ersteigerte die Basler Stiftung Im Obersteg das Gemälde «Tanz im Varieté».
- Seit Oktober wird dieses nun im Kunstmuseum Basel restauriert.
- Die Stiftung stellt ihre Sammlung dem Kunstmuseum Basel als Leihgabe zur Verfügung.
Magdalena Ritler richtet die Taschenlampe auf eine feine, kaum wahrnehmbare Linie. Ein Schnitt. Dann schwenkt sie das Licht auf einen kleinen, hellen Fleck. Ein Schuss. Es sind Spuren der bewegten Geschichte eines besonderen Kunstwerks.
Ritler ist Restauratorin am Kunstmuseum Basel. Vor ihr liegt auf einem grossen Arbeitstisch das Bild «Tanz im Varieté» des deutschen Malers Ernst Ludwig Kirchner. Das Gemälde stammt aus dem Jahr 1911 und hat im Sommer europaweit für Aufsehen gesorgt.
Das Werk gilt während 100 Jahren als verschollen. Zuletzt ist es 1923 an einer Ausstellung bei Paul Cassirer in Berlin öffentlich zu sehen, danach verschwindet es von der Bildfläche – bis es 2024 an einer Auktion von Ketterer Kunst in München wieder auftaucht. Die Basler Stiftung Im Obersteg ersteigert es im Juni für fast sieben Millionen Euro, wie OnlineReports zuerst berichtete.
Seit Oktober wird «Tanz im Varieté» im Auftrag der Stiftung Im Obersteg von den beiden Gemälde-Restauratorinnen Esther Rapoport und Magdalena Ritler unter der Leitung von Caroline Wyss Illgen im Kunstmuseum Basel restauriert.
«Für mich ist das eine interessante Herausforderung und vor allem auch eine Riesenchance», sagt Ritler. Die 28-Jährige hat erst im vergangenen Jahr ihren Masterabschluss gemacht.
Zu fragil für Reisen
Die Stiftung Im Obersteg stellt ihre Privatsammlung, zu der nun auch «Tanz im Varieté» gehört, dem Kunstmuseum Basel als Leihgabe zur Verfügung und präsentiert sie zu einem grossen Teil auch dort.
Das restaurierte Bild soll am 2. Juni 2025 in der Ausstellung «Paarlauf» gezeigt werden. Danach kommt es in die Dauerausstellung des Museums. Dass das Gemälde auch in anderen Museen gezeigt wird, ist eher unwahrscheinlich. Es sei für Reisen zu fragil, sagt Géraldine Meyer.
Die Kuratorin der Stiftung Im Obersteg hat im Frühling das Gemälde bei Ketterer Kunst entdeckt und bei der Auktion in München schliesslich den Zuschlag erhalten.
«Tanz im Varieté» hat seit seiner Entstehung einiges durchgemacht. Als Kirchner 1917 von Deutschland nach Davos übersiedelt, reist auch das Werk mit. Seine Partnerin spannt es für den Transport vom Rahmen ab und rollt es in die falsche Richtung. Dadurch wird die dünne Malschicht beschädigt.
In einer Kiste versteckt
Nach mehreren Handwechseln gelangt das Werk 1944 in eine Privatsammlung in Baden-Württemberg. Dort bleibt es während 80 Jahren verborgen. Um es vor dem Naziregime zu schützen – Kirchners Kunst gilt zu dieser Zeit als «entartet» – versteckt es der Besitzer auf einem Bauernhof in einer Kiste.
Als 1945 französische Truppen einmarschieren und das Bild finden, schiesst ein Soldat darauf und schlitzt es mit einem Bajonett auf.
Die beschädigte Leinwand wird später restauriert. Ritler zeigt Fotos von der Rückseite des Gemäldes. Darauf sieht man die geflickten Stellen. Diese belasse man so, sagt die Restauratorin. Sie seien Teil der Werkgeschichte und hätten einen historischen Wert.
Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liege auf der Konservierung; das Gemälde soll möglichst lange erhalten bleiben. Es ist nicht die Idee, das Bild zu perfektionieren.
Ritler hat das Bild mit Schnüren in verschiedene Segmente unterteilt. Diese Unterteilung ist auch auf der sogenannten Kartierung ersichtlich.
Das ist eine Zeichnung des Gemäldes, auf dem die Schäden und Arbeitsschritte dokumentiert sind. Das dient der Restauratorin zur Orientierung. «Damit ich mich nicht verliere und zweimal dieselbe Stelle bearbeite.»
Bevor sie mit der eigentlichen Restaurierungsarbeit beginnen konnte, haben die Restauratorinnen das Gemälde gemeinsam mit anderen Mitarbeitenden des Kunstmuseums, wie etwa aus der wissenschaftlichen Fotografie, analysiert.
Mit Infrarot- und Röntgenaufnahmen haben die Spezialistinnen und Spezialisten die Schichten des Werks untersucht.
Es gehe auch darum, möglichst alles über die verwendeten Materialien und die Maltechnik zu erfahren, sagt Ritler. Da es sich bei Kirchner um einen sehr bekannten Künstler handle, sei vieles bereits in der Literatur nachlesbar.
Man weiss etwa, dass Kirchner seine fertigen Werke zum Teil überarbeitete – manchmal erst viele Jahre nach ihrer Entstehung.
Es sei wichtig, Retuschen des Malers zu erkennen, sagt Ritler. Im Gegensatz zu fremden Nachbesserungen, die man beseitige, lasse man diese bestehen.
Leuchtende Farben und matte Malerei
Ritler arbeitet vor allem unter dem Mikroskop. Mit einer Art Mini-Staubsauger befreit sie das Gemälde von Schmutz und entfernt kleine, dunkle Flecken. So kämen die für Kirchners Kunst charakteristischen leuchtenden Farben und die matte Malerei besser zum Ausdruck.
Dabei achtet die Restauratorin aber darauf, nicht zu viel abzutragen, denn wie das Einschussloch und der Schnitt gehöre auch die über die Jahre hinweg gebildete Patina zum Bild. Bis es wieder auftauchte, kannte man «Tanz im Varieté» nur als Abbildung auf Schwarz-Weiss-Fotografien.
Kirchner gestaltete für fast alle Gemälde, die er verkaufte, einen Rahmen; für ihn gehörte dieser untrennbar zum Bild. Der Rahmen von «Tanz im Varieté» ist aber nicht mehr vorhanden. Gemäss Nachforschungen von Ketterer Kunst wurde er wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Um das Werk so zu präsentieren, wie es Kirchner selbst einst tat, liess das Münchner Auktionshaus den originalen Rahmen rekonstruieren, wie man ihn aus einer Ausstellungsansicht kennt.
Die Stiftung Im Obersteg hatte bislang kein Kirchner-Gemälde – obwohl Karl Im Obersteg und der deutsche Maler sich kannten und Briefkontakt pflegten.
Die rund 20 Schriftwechsel befinden sich im Archiv der Stiftung. Mit «Tanz im Varieté» habe man nun diese Lücke schliessen können, sagt Géraldine Meyer.
Tiefer Schätzwert
Kunstkenner kritisieren, die Stiftung habe für das Gemälde «zu viel Geld» ausgegeben. Die Kuratorin wehrt sich gegen diesen Vorwurf. Mit zwei bis drei Millionen Euro sei der Schätzwert viel zu tief angesetzt gewesen. Das habe auch das Auktionshaus Ketterer gewusst.
Im Gegensatz zur Stiftung besitzt das Basler Kunstmuseum bereits eine Skulptur und drei Gemälde von Kirchner: «Davos im Winter», «Stafelalp. Rückkehr der Tiere» und «Amselfluh». Sie stammen alle aus der Davoser Zeit des Künstlers und legen den Fokus auf die Berge und Wälder des Bündner Ferienorts.
Vor seinem Umzug in die Schweiz hat Kirchner in Dresden und Berlin viele Stadtmotive gemalt. «Tanz im Varieté» ist eines davon und mit 120 auf 145 Zentimetern laut Ketterer «eines der aussergewöhnlich grossformatigen Bilder im Werk Kirchners». Der Expressionist habe damit seine Faszination für den Tanz zum Ausdruck gebracht.
Das Bild zeigt einen sogenannten Cakewalk zwischen einem schwarzen Mann und einer weissen Frau. Der Gesellschaftstanz entstand um 1850 in den USA.
Sklaven parodierten damit das Verhalten ihrer weissen Herrschaften. Später entstanden daraus Tanzwettbewerbe, bei denen der Sieger mit einem Stück Kuchen (Cake) belohnt wurde.
Wie jetzt bekannt geworden ist, wurde das Gemälde dem Basler Kunstmuseum in den frühen 30er-Jahren zweimal zum Kauf angeboten; einmal von den Nachlassverwaltern des damaligen Besitzers, eines Emailwaren-Fabrikanten und Kunstsammlers, und einmal von der Mannheimer Galerie Buck, die das Werk in Kommission hatte.
Der damalige Museumsdirektor Otto Fischer hätte es gerne erworben, doch sei die Kunstkommission dagegen gewesen, vor dem Krieg so viel Geld auszugeben, erzählt Meyer. Nun schliesst sich der Kreis wieder.
Ob damit auch das letzte Kapitel der Geschichte dieses Werks geschrieben ist? Selbst wenn der Wert des Bildes durch die Restaurierung und die Ausstellung steige, habe die Stiftung nicht vor, es wieder zu verkaufen, sagt Meyer.
Die turbulente Vergangenheit zeigt aber: Bei «Tanz im Varieté» ist alles möglich.
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Hinweis: Dieser Artikel von Alessandra Paone wurde zuerst im Basler Newsportal «OnlineReports» publiziert.